Lauschen – Ein Plädoyer fürs Zuhören

Integral
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14. August 2020

„Wenn die ganze Welt blind wäre, wie viele Menschen würdest Du beeindrucken?“

Hörst Du gerne anderen Menschen zu? Oder ist Dir vielleicht schon mal aufgefallen, dass es ein weit verbreitetes Phänomen ist, sich gegenseitig nicht wirklich zu zuhören?

Ich beschäftige mich ja viel mit Delfinen und Walen und so auch damit, dass sie in einer Welt der Töne leben. Sie sind nicht so visuell geprägt wie wir, ihr Terrain ist ganz klar das Metier des Hörens. Bei den Delfinen haben wir es dabei noch mit einer ganz anderen Qualität des Hörens zu tun. Sie hören nicht nur in ihrem nahen Umfeld. Sie hören auch die Unterhaltungen der Delfine in ihrer Umgebung. Sie haben ein wirklich hoch entwickeltes Gehör und sind im Frequenzbereich von etwa 100 Hz bis 200 kHz unterwegs – der Mensch im Bereich von etwa 10 Hz bis 20 kHz. Auch beim Schwimmen mit Delfinen durchdringen ihre Sonar-Wellen unseren ganzen Körper und gehen in Resonanz mit diesen Wellen.

Was es ihnen u.a. möglich macht, die Unterhaltungen der anderen Delfine mitzuschneiden, ist folgende anatomische Besonderheit: Einzelne Knöchelchen im Gehörgang können unabhängig von den restlichen Schädelknochen schwingen, was ein ausgeprägtes Richtungshören unter Wasser ermöglicht. Die Ohrmuschel hat sich zurückgebildet, der äußere Gehörgang ist fast vollkommen verschlossen. Sie hören auch durch die Haut und spezielle Fettkanäle im Unterkiefer.

Was für eine Vorstellung alle Unterhaltungen im Umfeld mitzubekommen!

Wir hören wahrscheinlich nur mit den Ohren, aber wahrnehmen tun wir ganz sicher mit unserem ganzen Körper. Dazu ein anderes Mal mehr.

Nach dem Delfin-Exkurs zurück zu uns Menschen und dem Thema nicht zuhören können. Mir fällt es an mir selbst oft auf! Manchmal bin ich zu ungeduldig, manchmal beginnt der innere Dialog in mir bevor mein Gegenüber überhaupt angefangen hat zu sprechen… innerlich seufzend und die Augen verdrehend: „Oh je, nicht schon wieder dieselbe Geschichte…, die Belanglosigkeiten…“

Manchmal habe ich nicht die körperliche Kapazität mich auf jemanden einzulassen und zu lauschen. Ein klares Zeichen für mich, dass ich mich um meine eigenen Ressourcen kümmern muss.

Auch wenn eine Freundin mich schon öfter ihre Momo nennt, befriedigt es mich selbst nicht, wenn ich nicht in der Lage bin, einem Menschen, der mir etwas bedeutet, nicht aufmerksam und angemessen lauschen zu können. Und ist es nicht respektlos zu denken, ich wüsste, was jetzt kommt?

Zugegeben dazu gehören zwei – auch das Gegenüber. Denn ein Wesen, das wahrhaftig teilt, was mit ihm oder ihr passiert, sensibilisiert unsere Antennen und Interesse viel stärker als jemand, der/die nur eben mal eine Geschichte an den Mann oder die Frau bringen will. Oder mir klar machen will, wie toll er oder sie ist, natürlich Recht hat oder die Umstände Schuld an seiner/ihrer Situation sind.

Übrigens Momo ist der Titel und die Protagonistin in Michael Endes gleichnamigen Roman. Momo kann so zuhören, dass demjenigen, dem sie lauscht die Antworten auf unformulierte Fragen von selbst kommen und eine Art Ermächtigung passiert… Weiter unten ein Auszug aus dem Roman.

Als mir vor einigen Jahren im Rahmen meiner Coaching Ausbildung bewusst wurde, wie wenig wir uns gegenseitig zuhören, hat es mich wirklich umgehauen zu sehen, was für ein weit verbreitetes Phänomen das Nicht-Zuhören-Können ist.

Die heilsamsten Begegnungen mit Lehrern und Wegbegleitern auf meiner inneren Reise waren und sind die, wo jemand urteilsfrei, präsent und liebevoll lauschen konnte.

Zutaten für gutes Zuhören aus meiner Sicht: Präsenz, mit dem eigenem Körper in Kontakt sein, Wohlwollen, für die Zeit, des Lauschens sich selbst zurücknehmen

Lasst uns das Lauschen üben und unsere Aufmerksamkeit dahingehend schulen. Meiner Wahrnehmung nach können wir uns so reich beschenken mit heilsamen Begegnungen des gegenseitigen Lauschens… und dem Sehen/Erkennen des anderen, was automatisch folgt.

Vielleicht nimmst Du ja auch ein paar Zwischentöne wahr, die Du vorher noch nicht gehört und bemerkt hast? Beim Zuhören kann man etwas lernen, sagt der Dalai Lama.

Jedes Wesen und seine/ihre Lebensgeschichte ist so einzigartig – so ein Wunder.

“Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war das Zuhören.

Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.
Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur recht wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte – nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme.

Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm plötzlich Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, dass ratlose, unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten.

Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten.

Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.

Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf denen es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte das alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!”

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